Ein bahnbrechendes System künstlicher Intelligenz, entwickelt von Forschenden in der Schweiz, steht kurz davor, eine der weltweit kohlenstoffintensivsten Branchen zu revolutionieren: die Zementproduktion.
Das Team am Paul Scherrer Institut (PSI) hat ein sogenanntes „digitales Kochbuch für klimafreundlichen Zement“ entwickelt – ein KI-Modell, das in kürzester Zeit neue Zementformulierungen mit deutlich geringerem CO2-Fußabdruck entwerfen kann, ohne dabei die erforderlichen strukturellen Eigenschaften zu beeinträchtigen.
„Damit können wir Zementformulierungen simulieren und optimieren, sodass sie deutlich weniger CO2 ausstoßen und dennoch die gleiche hohe mechanische Leistungsfähigkeit aufweisen“, erklärt Mathematikerin Romana Boiger, Hauptautorin der im Juni 2025 in Materials and Structures veröffentlichten Studie.
Die Bedeutung dieser Innovation kann kaum überschätzt werden. Die Zementproduktion ist für rund 8 % der weltweiten Kohlendioxidemissionen verantwortlich – mehr als der gesamte globale Flugverkehr. Etwa die Hälfte dieser Emissionen entsteht durch die chemische Reaktion, wenn Kalkstein zur Herstellung von Klinker, dem Hauptbindemittel im Zement, erhitzt wird.
Traditionell erfordert die Entwicklung neuer Zementformulierungen aufwendige Labortests, wobei jede Iteration Wochen oder Monate in Anspruch nimmt. Der KI-Ansatz des PSI-Teams beschleunigt diesen Prozess enorm: Mithilfe neuronaler Netze, die auf Daten aus ihrer GEMS-Software trainiert wurden, können die komplexen chemischen Reaktionen während der Zementhärtung simuliert werden.
„Statt Sekunden oder Minuten kann das trainierte neuronale Netz nun die mechanischen Eigenschaften einer beliebigen Zementrezeptur in Millisekunden berechnen – das ist etwa tausendmal schneller als mit herkömmlichen Modellierungen“, erläutert Boiger.
Anstatt Rezepte zufällig zu testen, verfolgten die Forschenden einen umgekehrten Ansatz: Mit genetischen Algorithmen wurden gezielt Formulierungen identifiziert, die vorgegebene Ziele hinsichtlich CO2-Emissionen und Materialfestigkeit erfüllen. Mehrere von der KI identifizierte Zementrezepte zeigen bereits großes Potenzial, Emissionen zu senken und gleichzeitig die Qualität zu erhalten.
Das interdisziplinäre Projekt vereinte Zementchemiker, Thermodynamik-Experten und KI-Spezialisten im Rahmen des Swiss Centre of Excellence on Net Zero Emissions (SCENE). Während die aktuelle Studie vor allem als Machbarkeitsnachweis dient, planen die Forschenden, ihr Modell künftig um weitere Faktoren wie Rohstoffverfügbarkeit und Umweltbedingungen zu erweitern.
„Das ist erst der Anfang“, sagt Nikolaos Prasianakis, Initiator der Studie. „Die Zeitersparnis, die ein solch allgemeiner Workflow bietet, ist enorm – und macht ihn zu einem sehr vielversprechenden Ansatz für verschiedenste Material- und Systementwicklungen.“